Interview B. K. Tragelehn
„Da ist nicht eine Idee, die verwirklicht wird, sondern eine Realität, der man begegnet.“
Auszüge aus einem Gespräch mit B. K. Tragelehn vom 24. April 2019, das unser Regieassistent Falk Strehlow exklusiv für uns geführt hat.
Wir sitzen hier zusammen bei B. K. Tragelehn zwischen seinen Bücherregalen – B. K. Tragelehn: in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts Meisterschüler von Bertolt Brecht – und unterhalten uns über das Leben Eduards des Zweiten von England.
NEUES GLOBE THEATER: Was hat Brecht am elisabethanischen Theater interessiert? Waren es die „Verfremdungseffekt“-Elemente? Beispielsweise standen dort nur Männer auf der Bühne und spielten auch alle Frauenrollen. Oder waren es die balladesken episierenden Erzählformen wie zum Beispiel die sogenannte „Wortkulisse“, der Verzicht auf das Bühnenbild? Oder war es der besondere Kontakt zum Publikum? Man spielte ja in einem Rundtheater nach drei Seiten, Aug’ in Aug’ mit dem um die Bühne stehendem Publikum, bei Tageslicht und ohne Vorhang.
Galt Brechts Interesse dieser Aufführungspraxis sinnlich naher Theaterräume?
B. K. TRAGELEHN: Dieses Interesse für die Erzählform des elisabethanischen Theaters ist früh bei Brecht und steht im Zusammenhang mit dieser Arbeit, die er zusammen mit Feuchtwanger gemacht hat. Das ist ja rausgekommen an den Münchner Kammerspielen. Den Schauspieler, der da in der Uraufführung gespielt hat, den kenne ich noch, mit dem habe ich in München noch gearbeitet: Faber.[i] Der war über 90, als er bei mir im Hamlet gespielt hat.
Die Publikumsbeziehung ergibt einen anderen Zusammenhang zwischen Theater und Publikum schon durch die Form, wie das Theater gebaut ist. Das ist auch ein frühes Interesse bei Brecht. Der Begriff „Bühnenbau“ steht dem Begriff „Bühnenbild“ gegenüber. Freund Neher[ii] ist von Anfang der 20er Jahre an der „Bühnenbauer“. Das kündigt sich – dieses Denken einer anderen Theaterform mit einem anderen Zusammenhang von Schauspieler und Zuschauer – sehr früh an bei Brecht, ehe es politisiert wird, allerlei Unterfutter kriegt, bewusst ausformuliert wird, theoretisch, kündigt sich das an in den frühen Arbeiten. Und die Erzählstruktur der elisabethanischen Historie, das Historiendrama ist ja eine Form die da entstand. Marlowe ist einer der Urheber, mit ein paar anderen noch. Es hat schon was Zielführendes: diese Beschäftigung von Brecht in dieser Frühzeit, die schon die Richtung weist, in der er weiter gegangen ist. Was den Begriff „Episches Theater“ angeht.
NGT: Also da ist viel angelegt, was dann weiter führt bei Brecht?
B. K. T.: Man hat ja immer erst die Nase im Wind, also der Instinkt ist führend, es ist einfach die Eigenart der künstlerischen Produktion, da ist nicht eine Idee, die verwirklicht wird, sondern eine Realität, der man begegnet und wenn man mit ihr umgeht und sie bearbeitet, geht man der Nase nach. Deshalb hat der Brecht mir mal als Zwanzigjährigem gesagt: „Über Kunst können sie überhaupt nur künstlerisch schreiben!“ Das ist auch eine persönliche Erfahrung von ihm gewesen, dass er erst für das, was er gearbeitet hat, Gründe fand, es erst später diskursiv formulierbar wurde.
NGT: Ein allgemein verbreitetes Bild von Brechts Umgang mit Liebe und Sexualität, sowohl biographisch als auch bzgl. seiner literarischen Figuren, geht von einem Verhältnis zwischen Mann und Frau aus, Ansichten über Brecht und seine Frauen oder das Verhältnis zwischen Polly und Macheath bestimmen die herkömmliche Vorstellung dessen, wofür der Name Brecht steht.
Welche Rolle spielt das Thema der Homosexualität in Brechts Werk und Leben?
B. K. T.: Es gibt homoerotische, homosexuelle Motive in den frühen Stücken, am deutlichsten in Baal. Aber es ist nie für den Brecht als Problem ein Gegenstand gewesen: Der Eine ist so, der Andere so, aus!
NGT: Lion Feuchtwanger hat Brecht zur Stoffauswahl des Eduards angeregt. Rückblickend schreibt Brecht 1949 in seinem Gruß an Feuchtwanger: „Feuchtwanger ist einer meiner wenigen Lehrmeister. Durch ihn erfuhr ich, welche ästhetischen Gesetze zu verletzen ich mich anschickte.“
Lion Feuchtwanger kam aus einem dezidiert bürgerlichen Lager. Warum förderte er diesen nonkonformistischen Sonderling Brecht? Da es gerade Feuchtwanger war, der Brecht dazu bewog, seine Verse aufzurauhen, brüchiger, ruppiger zu gestalten, gibt es die These, dass nun gerade der Bürger Feuchtwanger den Antibürger Brecht zu dem machte, wofür dieser heute steht. Was hältst du von dieser Sichtweise?
B. K. T.: Ach, was heißt bürgerlich? Das ist so ein Schlagwort. Die Münchener Bürgerlichkeit ist eine wirkliche Tradition, die auch zum Beispiel bei Thomas Mann zu sehen ist, in die auch Feuchtwanger hinein gehört. Es gab da eine Bürgerlichkeit im weiteren Sinne. Im Deutschen fehlt ja diese Unterscheidung zwischen Bourgeois und Citoyen. Es gibt ein Stück darüber: „Der Marquis von Keith“ von Wedekind, der ja auch in München lebte und der ein großes Vorbild von Brecht war. Die sogenannte Brecht-Frisur war ja eine Wedekind-Frisur, das war die Frisur des alten Wedekind. Und die Singerei zur Klampfe hatte Brecht von Wedekind, der im Kabarett in München sang, wie Brecht später im Kabarett in Berlin gesungen hat, die „Ballade vom toten Soldaten“.
NGT: Zwei sich widersprechende Wahrnehmungen beim Vergleich Marlowe ÷ Brecht stehen sich gegenüber: Volker Canaris vertritt die These, dass der zentrale Unterschied zwischen Marlowes und Brechts Eduard in einer Verschiebung der Beweggründe der Figuren aus dem Feld des Politischen (bei Marlowe) (dann bei Brecht) hinein ins allgemein Menschliche, Naturhafte, wenn man so will, in individuell-persönliche Begründungszusammenhänge besteht.
Jan Knopf behauptet nun geradezu das Gegenteil: Brecht verschärfe den Standesunterschied zwischen den beiden Figuren EDUARD und GAVESTON, um gerade das Augenmerk auf die gesellschaftlichen Bestimmungen der beiden zu legen.
Was ist deine Meinung dazu?
B. K. T.: Das ist eine akademische Debatte. Bei Marlowe wie bei Brecht ist das eine Kunstrealität, in der viel Wirklichkeit enthalten ist, und der Umgang damit kehrt jeweils die Seiten hervor, die dem gegenwärtigen Interesse dienen. Theater ist immer an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Und sicher ist es auch oft parteiisch. Das Interesse ist immer ein Gegenwartsinteresse. Man debattiert mit dem Publikum, das zu der Zeit ins Theater geht. Der Zusammenhang zwischen Theater und Schreiben war ja damals sehr eng, es wurde direkt fürs Theater geschrieben, und in Brechts Fall ist das wieder so, im Grunde sein Leben lang, aber es fängt an in München mit der Beziehung zu den Kammerspielen und zu Feuchtwanger, diese Bindung ans Theater.
Es gibt jenseits von politischen Bindungen ein frühes Interesse Brechts an – ja, wie nennt man das – an der Unterklasse, bis zum Lumpenproletariat. Das hat aber auch mit Bohemienhaftigkeit im Nachkrieg zu tun. Auch mit Brechts Sanitätstätigkeit noch im Krieg. Das war ja seine Weise, nicht aufs Schlachtfeld zu müssen. Da gab es eine Berührung zwischen Klassen, die sonst eher auf bestimmte formale Beziehungen wie Chef und Untergebener beschränkt sind. Es war ein Moment der Realität damals und gehörte zum Erfahrungsbereich von Brecht.
NGT: Brecht zeichnet für die Uraufführung des Eduard in seiner Eigenschaft als deren Regisseur verantwortlich. Während der Arbeit mit den Schauspielern ist folgende Bestandsaufnahme der Arbeit überliefert: „Ich bin mitten in Proben, aber es ist leichter, mit den Zähnen Pflastersteine zurechtzubeißen, als so was.“ Wie erklärst du dir die Bissfestigkeit dieser Herausforderung einer produktiven, konkreten, bühenenwirksamkeits-bezogenen Theatralisierung des Eduards?
B. K. T.: Brechts Vorstellungen von der Art zu spielen waren damals noch nicht ausformuliert, aber die waren schon angelegt. Und das kann ich mir gut vorstellen, dass er da Schwierigkeiten hatte mit der überlieferten Art Theater.
Ja, zum Beispiel bei Vorsprechen: Das ging manchmal ruck zuck. Die wurden schnell abserviert.
NGT: Du hast Brecht ja auch als Regisseur des Öfteren selbst erleben können. Wie ging das denn mit ihm weiter?
B. K. T.: Nach seiner Erfahrung, sechs Jahre lang eine eigne Truppe zu haben, kam es zu dem Versuch, den Begriff „Episches Theater“ als „zu formal“ zu ersetzen durch den Begriff „Dialektisches Theater“. Und drei Tage vor seinem Tod hat er einem Franzosen ein Interview gegeben, und auf die Frage, was er exemplarisch fände für das Theater der Zukunft, hat er wie aus der Pistole geschossen geantwortet: „Die Maßnahme“.[iii]
Dieser Gedanke der Publikumsbeziehung – Heiner Müller hat ja auch immer formuliert: der eigentlich politische Vorgang im Theater ist, was zwischen Publikum und Schauspielern vor sich geht – hat natürlich eine Seite, die mit der Anordnung im Raum zu tun hat. Deshalb „Theaterbau“ oder „Bühnenbau“ gegen „Bühnenbild“. Dieser sehr frühe Begriffswechsel bei Brecht und dann bei Walter Benjamin die Beschreibung „Was ist das epische Theater?“: das fängt damit an. Das ist jetzt noch mal dokumentiert worden bei der „Brecht-Benjamin-Ausstellung“ in Berlin, diese Geschichte: Worum es heute geht, wirklich ganz exemplarisch, könne man besser an der Bühne als am Drama darstellen.
Das Theater ist entstanden, als aus dem Chor Protagonisten heraustraten. Und der Chor, das ist der volle runde Kreis, wo jeder jeden sieht und jeder jeden hört. Also die Form in der Urgesellschaft, im Clan, ehe, der Arbeitsteilung folgend, eine Spaltung in Klassen eintritt. In der attischen Tragödie ist ja der Ring schon halbiert durch die Orchestra. Ihre „Verschüttung“ definiert Benjamin mit Brecht als das gegenwärtige Ziel. Eigentlich hat das Theater immer die Sehnsucht behalten nach der Wiederherstellung des vollen Kreises. Auch die elisabethanischen Theaterbauten behaupten eine Gemeinschaft mit dem Publikum.
NGT: Das elisabethanische Theater führt dann zu Stücken wie: „Schade, dass sie eine Hure war“ von John Ford …
B. K. T.: Ja, das hab ich übersetzt und auch inszeniert, ein herrliches Stück.
NGT: Was hat dich da besonders interessiert?
B. K. T.: Darauf gestoßen bin ich durch den berühmten Vortrag Artauds[iv] über „Das Theater und die Pest“. Seine Beispiele sind Büchners „Woyzeck“ und dieses Stück. Ich hab es mir besorgt und fand es grandios, ist natürlich eine Abwandlung der Romeo-und-Julia-Geschichte, aber verschärft durch die Inzest-Frage.
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B. K. Tragelen ist Theater-Regisseur, Schriftsteller und Übersetzer. Er war Meisterschüler von Bertolt Brecht und Erich Engel an der Akademie der Künste in Berlin (Ost). Die Zusammenarbeit mit Heiner Müller, Einar Schleef und Friedrich Dieckmann bestimmten sein Leben und Werk. Er war der letzte Präsident des ostdeutschen PEN und ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland. Viele Jahre hatte er den Vorsitz der Internationalen-Heiner-Müller-Gesellschaft inne.
Das Gespräch führte Falk Strehlow.
[i] Erwin Faber war ein österreichischer Schauspieler. 1922 lernte er Bertolt Brecht kennen. Faber übernahm wichtige Rollen in Uraufführungen früher Stücke Brechts. In Zusammenarbeit mit Brecht, Erich Engel und Karl Valentin trat er als Filmschauspieler in Erscheinung. Auch als Theaterregisseur machte er sich einen Namen.
[ii] Caspar Neher arbeitete zeitlebens mit Brecht zusammen und gestaltete eine Vielzahl von Bühnenbildern/-bauten im Aufführungszusammenhang von Brechts Stücken. Neher besuchte dieselbe Schulklasse wie Brecht. Neben der langjährigen Zusammenarbeit verband die beiden eine enge Freundschaft. Caspar Neher taucht auch mehrfach in Brechts Gedichten auf.
[iii] „Die Maßnahme – Lehrstück“ ist ein Drama von Bertolt Brecht, das 1930 erschien und im selben Jahr uraufgeführt wurde. Es entstand in Zusammenarbeit mit Hanns Eisler, Elisabeth Hauptmann und Kurt Weill. Das Lehrstück „Die Maßnahme“ gehört zu den umstrittensten Texten Brechts. Durch eine Rezeption der Missverständnisse sah sich Brecht gezwungen, Selbstzensur zu üben und die Aufführung des Stückes zu verbieten. Siehe auch: Bertolt Brecht, B. K. Tragelehn: „Die Lehrstücke“, Leipzig 1978, B. K. Tragelehn: „Chorfantasie“, Berlin 2015.
[iv] Antonin Artaud war ein französischer Schauspieler, Dramatiker, Regisseur und Dichter. Als Theatertheoretiker hat er in den 1930er Jahren das Aufführungskonzept eines „Theaters der Grausamkeit“ entworfen, das seitdem als fester Begriff die Debattenkultur der Theatertheorie und -praxis mit prägt.
Foto: Günther Ludvik